RAIL INSPECTION || Jens Bertrand
16. Jan 2023 16:14

Requirements capture, vielmehr als ein nur ein Nachweisplan!

Ansichten zur Anforderungserfassung

Von: Jens Bertrand

Übersicht Requirements Capture

Jeder der sich mit der Genehmigung von Neufahrzeugen oder mit der Änderung von bereits genehmigten Fahrzeugen auseinandersetzt, kommt um das Thema „Erfassung der Anforderungen“ oder „Requirements capture“ nicht herum. Erste Berührungen dürfte die breite Masse schon im Zusammenhang mit der Zugfunkumrüstung auf störfeste Funkmodule, oder wo erforderlich beim Austausch von Zugfunkanlagen, gesammelt haben. Artikel 13 der DVO (EU) 2018/545 beschreibt in drei Absätzen kurz und knapp die Erwartungshaltung an den „Antragsteller“, wobei sich neben dem „Antragsteller“ der Kreis der Adressaten auch auf die „Änderungsverwaltungsstelle“, insbesondere bei einem Genehmigungserfordernis im Sinne des Artikels 14 Absatz 1 d) der sog. „neuen Genehmigung“ der DVO, ausdehnt.

Darüber hinaus sind auch Änderungsverwaltungsstellen eines bereits genehmigten Fahrzeuges i.S. des Artikel 16 der DVO, die nicht Inhaber der Fahrzeugtypgenehmigung sind, im Zusammenhang mit geplanten Änderungen in der Verantwortung ein Requirements capture durchzuführen.

Schon der im Artikel 13 der DVO (EU) 2018/545 mit dem Requirements capture formulierte Zweck, dass festgestellte Risiken kontrolliert und auf ein vertretbares Maß zu beschränken sind, um damit sicherzustellen, dass alle während des Lebenszyklus relevanten Anforderungen des Fahrzeugs

  1. ordnungsgemäß ermittelt werden;
  2. den Funktionen bzw. Teilsystemen zugeordnet oder über die Nutzungsbedingungen oder andere Beschränkungen angegangen werden und
  3. umgesetzt und validiert werden


verdeutlichen Inhalt und Umfang.

In der nebenstehenden Abbildung ist dargestellt, dass nicht nur die Anforderungen umfassend und weitsichtig aufgestellt werden müssen, sondern auch deren Anwendung bis hin zum dokumentierten Nachweis, dass die spezifizierten Anforderungen für den beabsichtigen Zweck angemessen sind und die erwarteten Merkmale tatsächlich erfüllen.

Wie schon im Leitfaden der ERA über die praktischen Modalitäten für die Fahrzeuggenehmigung1 beschrieben, ergibt sich damit eine Anforderungsmatrix aus

- den Quellen, wie Leitfäden, Standards und gesetzlichen Anforderungen und

- den Anwendungsbereichen des Projektes, des Unternehmens sowie nationale, europäische und internationale Geltungsbereiche.

In allen Fällen der Genehmigung von neuen Fahrzeugen (Typen / Varianten) aber auch bei Änderungen an Fahrzeugen mit Genehmigungserfordernis, wenn bspw. eine der in Artikel 21 Absatz 12 der Richtlinie (EU) 2016/797 genannten Voraussetzungen erfüllt ist, ist die Anwendung eines Risikomanagementverfahrens nach DVO (EU) 402/2013 in der Regel nicht nur wegen der „Änderung technischer Art im Eisenbahnsystem“, sondern davon losgelöst auch für das Requirements capture erforderlich. Wobei der Verordnungsgeber bei der Erfassung der grundlegenden Anforderungen in anderen Bereichen als der Sicherheit auch die Anwendung einer anderen Methodik zulässt. Bei deren Verwendung ist aber nachzuweisen, dass diese die gleiche Gewähr bietet, wie die in Anhang I der DVO (EU) 402/2013 beschriebene Methodik. Dieser Nachweis kann gegenüber der Behörde sehr aufwendig und diskussionsintensiv werden.

Die im Rahmen des Requirements capture ermittelten Anforderungen auf Grundlage von etablierten Regelwerken drängen dem Antragsteller geradezu die Anwendung des entsprechenden Risikoakzeptanzgrundsatzes (Anwendung der Regelwerke) der DVO (EU) 402/2013 auf. Damit kommt der Antragsteller in den Genuss der unter 2.3.5 und, wenn alle Gefährdungen durch Anwendung von Regelwerken unter Kontrolle gehalten werden, auch 2.3.8 des Anhanges I der DVO (EU) 402/2013 beschriebenen Erleichterungen. Insofern spricht einiges dafür bei Änderungsverwaltungsstellen die Verfahren zur Erfassung der Anforderungen stets auf Grundlage des Anhanges I der DVO (EU) 402/2013 zu etablieren.

Gerade bei Änderungen kann mit Hilfe einer sorgfältigen Änderungsauswirkungsanalyse einerseits eine geeignete Systemdefinition als Einstieg in das Risikomanagementverfahren abgeleitet werden und andererseits können Aspekte der sicheren Integration frühzeitig identifiziert werden.

Die Notwendigkeit der Beteiligung einer Unabhängigen Bewertungsstelle (UBS/AsBo) wird gerade bei Änderungen, die aufgrund ihrer Kategorisierung „nur“ zu einer Unterrichtung / Mitteilung der Genehmigungsstelle i. S. des Artikels 16 Absatz 4 der DVO (EU) 2018/545 führen, viel diskutiert. Die „Clarification note zum Requirements capture“2 hat nach meiner persönlichen Erfahrung diese Diskussionen intensiviert.

Wichtig wäre es in dieser Diskussion zwei Dinge voneinander zu trennen:

  1. Die Bewertung der technischen Änderung des Fahrzeuges, die womöglich nicht signifikant ist oder eingestuft wurde.
  2. Das im Artikel 13 Absatz 3 der DVO (EU) 2018/545 beschriebene Erfordernis der Anwendung des im Anhangs I der Verordnung (EU) Nr. 402/2013 beschriebenen Risikomanagementverfahrens, um die grundlegenden Anforderungen in Bezug auf die Sicherheit des Fahrzeugs und der Teilsysteme sowie die sichere Integration der Teilsysteme zu erfassen.


Denn nur wenn keine nationale Vorschrift notifiziert wurde, anhand deren bestimmt werden kann, ob eine Änderung für die Sicherheit in einem Mitgliedstaat signifikant ist oder nicht, hat der Vorschlagende anhand von Kriterien der DVO (EU) 402/2013 die Signifikanz der Änderung zu bewerten3. Leider sind Verordnungstexte nicht immer so klar formuliert, dass sich eine Unterstellung der Signifikanz durch den Gesetzgeber auf Anhieb für den technisch geneigten Leser erkennen lässt. Insoweit sollte die Änderungsverwaltungsstelle in der Rolle des Vorschlagenden den jeweiligen Einzelfall in der Anfangsphase des Änderungsprojektes sehr sorgfältig prüfen, um nicht erst von der Genehmigungsstelle aufgrund unzureichender Nachweise kurz vor Ablauf von vier Monaten eine nicht begünstigende Entscheidung zu erhalten.

Solange sich die Änderungsverwaltungsstelle auf die anerkannte oder akkreditierte Kompetenz der Unabhängigen Bewertungsstellen (UBS/AsBo) und ihre Erfahrungen in dem jeweiligen spezifischen Bereich/System der geplanten Änderung stützen kann, wird auch die Begleitung eines Requirements capture durch die UBS/AsBo in einem frühestmöglichen Stadium des Projektes eher ein Zugewinn für die Planung und die Sicherheit als eine Belastung für das Projekt. Ein sorgfältiges Requirements capture bestimmt auch den Nachweisumfang und ist somit die Voraussetzung für effiziente und zielgerichtete Bewertungstätigkeiten der Benannten- & Bestimmten Stellen (NoBo, DeBo). Da sich die Unabhängigen Bewertungsstellen (UBS/AsBo) auf die Ergebnisse der Bewertungen der Benannten- & Bestimmten Stellen (NoBo, DeBo) stützen sollen, kann die Bewertung des Requirements capture folglich auch erst nach deren Abschluss der Bewertungen mit Eingang in den Sicherheitsbewertungsbericht finalisiert werden.

Zu Fragen der oben angesprochenen Schwerpunkte können Sie mich gern kontaktieren.

[1] Leitfaden Leitlinien über die Fahrzeuggenehmigung der Eisenbahnagentur der Europäischen Union Version 1.0 Seite 44

[2] Clarification note Requirements capture (ERA1209-146) der Eisenbahnagentur der Europäischen Union Version 1.1

[3] Vergleiche Erwägungsgrund 9 der DVO (EU) 402/2013.